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Demokratischer Diskurs in zwei Sprachen

Rund 30 Prozent der Neusser Bevölkerung verfügen über einen Migrationshintergrund. In der Stadtgesellschaft spiegelt sich das trotz vieler Bemühungen bislang nur marginal wider. Da lässt einen aufhorchen, wenn das diesjährige Shakespeare-Festival mit einer deutsch-türkischen Aufführung aufwartet, die dazu noch die politischste und letzte Tragödie Shakespeares darstellt. Die Bremer Shakespeare-Company hat das Tiyatro Bereze aus Istanbul eingeladen, gemeinsam eine zweisprachige Inszenierung zu entwickeln.

Eine irritierende Ausgangsvoraussetzung: Eine deutsche und eine türkische Schauspieltruppe verhandeln die römische Demokratie, also nur indirekt eine gemeinsame Kultur. Dafür verwenden die Darsteller zwei Sprachen, eine, die den meisten Deutschen vollkommen unbekannt ist, und die andere eine Kauderwelsch-Übersetzung eines altertümlichen englischen Textes ins Deutsche. Übertitel oder Ähnliches ist nicht vorgesehen. Dem Publikum scheint es eine interessante Angelegenheit zu sein, denn so gut wie alle Plätze im Führring vor dem Neusser Globe-Theater sind besetzt. Da darf man gespannt sein, wie die fünf Schauspieler die Massenszenen im Stück Coriolanus von William Shakespeare zeigen werden.

Im Vorfeld verspricht Regisseur Doğu Yaşar Akal, einen eigenen „Spiel-Kosmos“ mit einer „neuen Theatersprache“ zu erschaffen. Dabei sei das Stück so angelegt, „dass es einerseits auf der Bühne zu sehen und zu hören ist, aber sich andererseits auch im Kopf der Zuschauer zu behaupten versucht“. Und das gelingt auf wunderbare Weise, indem er den Akzent eher auf die Unterhaltung als die Tragödie legt. Auf der Bühne von Heike Neugebauer geht es dabei recht überschaubar zu. Zwei Tonnen, ein fahrbares Rednerpult, seitlich ein paar Stühle und am Ende ein bisschen was zum Staunen. Dazu passend gibt es die Requisiten von Melanie Kuhl. Rike Schimitschek hat bei den Kostümen eine Art Grundausstattung, die mit Hilfe kleinerer Accessoires wie Umhängen und Perücken blitzschnelle Rollenwechsel ermöglichen. Denn wie es sich für eine Shakespeare-Aufführung gehört, haben die fünf Darsteller jede Menge Rollen zu bewältigen.

Die Geschichte ist so schnell wie turbulent erzählt. Caius Martius kehrt als erfolgreicher Feldherr heim nach Rom, wo er den Ehrennamen Coriolan erhält und ihm die Würde des Konsuls angetragen wird. Zeitgleich rumort es im Volk. Zur Beruhigung ernennt der Adel zwei Volkstribune, die in der Folge dafür sorgen, dass der Machtmensch nicht nur auf den Konsultitel verzichten, sondern sogar Rom verlassen muss. Der schließt sich daraufhin Tullus Aufidius, dem Herrscher über die Volkser an und zieht mit ihm gegen Rom. Akal, der mit seinem Ensemble eine eigene Textfassung erarbeitet hat, wendet einige Tricks an, um die Anforderungen des Stücks zu erfüllen. Da simulieren die Darsteller mal den Senat, mal das Volk, ein andermal wird das Publikum zum Plebs. Die Schlägereien werden im Comic- und Slow-motion-Stil gezeigt, was beim Publikum immer wieder gut ankommt.

Überhaupt treiben Markus Seuss, Erkan Uyaniksoy, Simon Elias, Svea Meiken Auerbach und Elif Temucin Uyaniksoy das Geschehen mit viel Spielfreude voran, selbst dramatische Monologe werden auf das Notwendige verkürzt. Da muss man schon sehr konzentriert dabei bleiben, um die raschen Szenenwechsel ebenso wie die Slapstick-Einlagen zu verstehen. Lohn für die „Mühe“ sind zwei Stunden, die nur so verfliegen, was angesichts des Insektengetümmels gern gesehen wird.

Ach ja, und die Sprache? Es bleibt im Wesentlichen bei der guten Idee. Angesichts der Tatsache, dass im Zuschauerrund – nach äußerem Anschein – nur wenig türkischsprachige Zuschauer sitzen, bleibt die Frage nach der Notwendigkeit. Angesichts des Umstandes, dass das Türkische mitunter ganz wunderbar klingt, ist es nicht schlimm, sich das anzuhören. Allerdings nimmt Akal auch an einigen Stellen bewusst in Kauf, dass allein deutschsprachige Zuschauer alleingelassen werden und schlicht nicht verstehen, was da eben auf Türkisch gesagt wurde. War das Gesagte also überflüssig oder so unbedeutend, dass es keiner näheren Übersetzung bedarf? Die Sprachvielfalt bleibt damit ein schöner, erster Versuch, der aber sicher der Weiterentwicklung bedarf und auch das Potenzial dazu hat.

Ein paar Meter nur vom Veranstaltungsort entfernt, geht das Rheinische Landestheater Neuss den umgekehrten Weg, indem Intendantin Caroline Stolz gleich ganze Stücke ohne Worte anbietet. Was sich Astrid Schenka als Künstlerische Leiterin des Shakespeare-Festivals in den nächsten Jahren einfallen lässt, um möglichst viele Nationalitäten vor der Bühne am oder im Globe zu versammeln, wird sicher nicht nur in Neuss aufmerksam verfolgt werden. Denn hier kann das Theater einen bislang wenig beachteten Beitrag zum gesellschaftlichen Konsens leisten.

Derweil geht das diesjährige Shakespeare-Fest in Neuss mit einer Aufführung am kommenden Freitag zu Ende. Unter erheblich erschwerten Bedingungen hat das Organisationsteam wieder eine hervorragende Arbeit abgeliefert und trotz unglaublicher Gängeleien den Besuchern ein außergewöhnliches Erlebnis vermitteln können. Ob es dabei in erster Linie am guten Wetter, der fast familiär wirkenden Örtlichkeit oder einem wie immer abwechslungsreichen Programm lag, mag jeder Besucher für sich selbst entscheiden. In jedem Fall war auch dieses improvisierte Fest eine Empfehlung, im kommenden Jahr wiederzukehren.

Und wer die bezaubernde Atmosphäre am Führring abseits von William Shakespeare genießen möchte, hat dazu vom 3. bis zum 11. Juli Gelegenheit. Denn die Stadt Neuss lädt dann zum zweiten Mal zu einem Kulturgarten ein.

Michael S. Zerban
28.06.2021
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