Das Tiyatro BeReZe gastierte in der Shakespeare-Company mit einer grotesken Gratwanderung und bizarren Kostümen. Die Ursprünge der zwei Künstler im Straßentheater kann man sich gut vorstellen.
Es beginnt im Dunkeln. Aus der Ferne hört man eine Art Gesang, eine gleichförmige Tonfolge, die lauter zu werden scheint, je dunkler es wird. Nach einer Weile schiebt ein dünner Mann einen Rollstuhl auf die Bühne. Langsam erkennt man darin eine Frau mit blonden Haaren, die ihr Gesicht verdeckt. Der Mann ist offenbar durch einige Verwachsungen an seinem Körper gezeichnet. Die Frau schiebt die Haare zur Seite, bis sie erst durch einen Spalt in die Umgebung schaut und legt dann ihr Gesicht frei. Sie hat ein blaues Auge und am linken Mundwinkel ein kräftiges Hämatom.
"Gelgit – Gezeiten" heißt das Stück des türkischen Tiyatro BeReZe, das so beginnt und am vorigen Wochenende in der Shakespeare Company Station machte. Es geht um zwei ausgegrenzte "Reisende", bizarre Clowns, die staunend groteske Missverständnisse und absurde Verbrüderungen betrachten: eine ironische Gratwanderung zwischen Tragödie und Komödie. Elif Temuçin und Erkan Uyaniksoy sind Autorin und Autor des Stücks und zugleich die beiden Hauptdarsteller. Ihr Besuch in Bremen im Rahmen des Projektes "Sehnsucht Europa" wurde durch eine Förderung des Kulturforums Türkei möglich, ein in den 1980er-Jahren aus einer Initiative von Künstlern, Kultur- und Medienexperten entstandener gemeinnütziger Verein in Köln, der sich dem interkulturellen Dialog verpflichtet hat.
Ursprung im Straßentheater
Die Sprache des Stückes ist darum türkisch mit deutschen Obertiteln, weil sie oberhalb der Bühne eingeblendet werden. Das hat allerdings nicht durchgehend funktioniert. Andererseits ist die Aufführung so bildstark, dass man auch dann gefesselt ist, wenn die Texte nicht sofort verständlich sind. Das Autorenduo spielt mit theatralischen Zeichen und jongliert gleichsam mit "roten Heringen" – falsche Fährten, die Autoren auslegen, wenn sie nicht möchten, dass sich das Publikum zu früh auf eine Deutung festlegt.
Der verwachsenen Mann erzählt etwa die Geschichte vom "hässlichen Entlein", einem Kunstmärchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen von 1843. Das hässliche Entlein ist das Urbild des Außenseiters. "Gelgit" modifiziert das Märchen. Das hässliche Entlein flieht und kommt so zu den wilden Enten. Die sagen: "Mein Gott, was bist du für ein hässlicher Vogel. Aber wenn du versprichst, nicht in unsere Familien einzuheiraten, darfst du bei uns bleiben." Es geht also um Integration und Ausgrenzung. Die Autoren sagen, die Türkei habe ein ernsthaftes Problem mit der Integration der vielen Flüchtlinge aus Syrien. Sie würden vielfach ausgegrenzt und übervorteilt. Sie sagen, Dänemark und auch Deutschland hätten diese Aufgaben viel besser bewältigt und man könne zum Beispiel von Dänemark lernen.
Szenische Collage
Zu diesem Thema haben sie einige Szenen für ein Straßentheater in Istanbul entwickelt. Nach und nach ist daraus "Gelgit" geworden. Die Feinarbeit an dem Theaterstück dauert an. Temuçin und Uyaniksoy werten Videoaufnahmen ihrer Aufführungen aus und werden konkreter, wenn ihnen Dinge zu abstrakt erscheinen und umgekehrt. So entsteht eine szenische Collage zu den Themen Integration und Ausgrenzung, Macht und Ohnmacht. Dabei kommt der Humor nicht zu kurz. In einer Szene drehen sie den Rollstuhl so, dass der Rücken zum Publikum zeigt. Auf der Fläche werden einige offenbar derbe Szenen mit einfachen Handpuppen gespielt. Hier wandern die Schauspieler auf dem Grat zwischen der recht gewalttätigen "Punch and Judy Show (der englischen Variante des Kasperletheaters)" und der "Muppet-Show". Die Texteinblendungen haben für diese Szene nicht funktioniert, aber die türkischen Gruppen im Publikum haben ständig gekichert und gelacht. Einer der wenigen übersetzten Sätze: "Wenn die Außerirdischen landen, wer integriert dann wen?"
Der kundige Zuschauer erkennt schließlich irgendwann das Hauptmotiv von Samuel Beckets Theaterstück "Das Endspiel" wieder. Bei Becket geht es um die Beziehung zwischen Diener und Herr, zwischen Clov und Hamm, die von gegenseitiger Abneigung geprägt ist. Clov hasst Hamm und möchte ihn verlassen, trotzdem gehorcht er seinen Anweisungen. Er bringt nicht die Kraft auf, zu gehen. Hamm sitzt bewegungsunfähig auf einer Art Thron auf Rollen.
Düstere Symbolik
Die Übersetzerin der Texteinblendungen, Ilona Klein, sagt, es seien sogar Originaltexte aus dem "Endspiel" verwandt worden. Sie habe allerdings nicht exakt übersetzt, sondern übertragen. Becket hatte das Stück auf Französisch geschrieben und später selbst ins Englische übersetzt. Nun ist es aus dem Türkischen ins Deutsche gewandert. So dürfte die Wanderung des Textes durch die Sprachen eine gewisse Unschärfe nach sich ziehen.
Was bleibt, ist eine düstere Symbolik, die oft schwer zu entschlüsseln ist. Viele Zuschauer hatten nach Ende der Vorstellung ein virtuelles Fragezeichen auf der Stirn. Keiner mochte einen Kommentar abgeben. Im Publikum saß auch Professor Muhlis Kenter. Er ist kulturinteressiert, hat türkische Wurzeln und kennt den Hauptdarsteller persönlich. Wie kommentiert er das Stück? Er sagt: "Ich kann spontan nichts dazu sagen. Ich muss die Dinge erste einmal sacken lassen." Der allgemeine Tenor lautete, auch wenn wir nicht alles verstanden haben, berührt hat es uns doch.
Das könnte an der außerordentlichen Präzision des Spiels liegen. Da stimmte jede Geste, jeder Blick, jeder Gang und jeder Tanzschritt. Der Name "Tiyatro BeReZe" steht damit auch für eine außergewöhnliche handwerkliche Qualität.
Martin Ulrich
Weser Kurier
15.03.2018
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