Bremen - Sie haben die Wahl – soll der erfolgreiche Militär Coriolanus Konsul von Rom werden oder nicht? Noch einfacher gefragt: Wollen Sie eine Diktatur oder nicht? Die Stimmabgabe findet in der Pause statt – ausgezählt wird öffentlich. Sie bekommen also, was Sie wollen. Also Sie als Kollektiv, das ansonsten eher passiv dem Polittheater zuschauen darf, das derzeit im Theater am Leibnizplatz unter dem Titel „Coriolanus“ über die Bühne geht.
Dabei ist es nicht so, dass (Spoiler!) dieses eher selten gespielte Stück von seinem Autor William Shakespeare mit zwei Enden versehen worden wäre, je nach Ausgang der Abstimmung. Es ist eher so, dass die Sache mit dem Wählerauftrag, das kennen wir aus dem „richtigen“ Leben, dann doch nicht so einfach ist. Dass auch bei Shakespeare „die da oben sowieso machen, was sie wollen“, hat seinen Grund nicht zuletzt in einer handfesten Staatskrise, und bei solchen gelten sogar in Demokratien wie der unseren andere Regeln.
Es sind in diesem Fall die Getreidepreise, die die Plebejer, also das einfache römische Volk, auf die Barrikaden bringen. Der Adel versucht die Situation zu entschärfen, indem er einerseits ideologisch einwirkt, in Form des Gleichnisses vom Magen, der für alle anderen Organe mitisst, andererseits durch demokratische Zugeständnisse: Die Plebejer dürfen ab sofort ein paar Volkstribune wählen.
Es ist auch ein entlarvender Moment, wenn Simon Elias von der Bremer Shakespeare Company und Elif Temucin Uyaniksoy als frischgebackene Tribune ausschwärmen, frohlockend: „Wir holen uns unseren Staat zurück!“
Schon sind wir mittendrin in dem Bedeutungshof, den das ja immerhin einige Hundert Jahre alte Stück eröffnet, wenn es in einer Zeit gespielt wird, in der die Demokratie in der Krise ist – und wenn an der Produktion Künstler beteiligt sind, die aus einem Land kommen, in dem zumindest nach hiesiger Lesart schon ein Despot an der Macht ist.
Das Tiyatro BeReZe, mit dem die Shakespeare Company den „Corolioanus“ am Donnerstag zur Premiere brachte, kommt aus Istanbul, und natürlich läuft die Assoziationsmaschine sofort an, wenn das fünfköpfige Ensemble eine Demonstration mitsamt knüppelnder Polizei darstellt. Gezi-Park, die Kurdenproblematik, Sie wissen schon. Aber zwei fröhliche Volkstribune machen noch keinen Diktator. Das ist die Rolle von Coriolanus, den Markus Seuß als hochfahrenden, aufbrausenden Charakter porträtiert, dem jedwede politische Geschmeidigkeit abgeht. Die Assoziationsmaschine rattert weiter: Ist dieser Coriolanus so ein Trump-Typ? Schließlich wird jener auch dafür gefeiert, dass er die Regeln des Betriebs missachtet. Was an diesem Abend aber ebenso wenig aufgeht wie die Gleichsetzung von Volkstribunen und unseren Rechtspopulisten.
Anstatt also die Ressentiments des aufgeklärten Staatsbürgers gegenüber politischen Phänomenen wie Erdogan, Trump oder Gauland zu bedienen, lädt dieser „Coriolanus“ ein, ein bisschen grundlegender zu denken. Und dabei durchaus Spaß zu haben. Was ja keine Selbstverständlichkeit ist: Die Kooperation eines deutschen Theaters mit Kollegen aus der Türkei steht vor der Schwierigkeit, eine Form, in der beide Sprachen im engeren und weiteren Sinne aufgehoben sind oder sich zu etwas Neuem verbinden.
Regisseur Dogu Yasar Akal vom Tiyatro BeReZe hat mit den fünf Schauspielern, zu denen neben den Genannten auch Erkan Uyaniksoy und Svea Meiken Auerbach gehören, eine sehr körperliche Form gefunden, den Stoff auf die raffiniert reduzierte Bühne von Heike Neugebauer zu bringen – die assoziativen Kostüme dazu hat Rike Schimitschek ersonnen. Vor allem Erkan Uyaniksoy darf sich pantomimisch austoben, aber dieser Abend ist nicht zuletzt eine überzeugende Ensemble-Leistung, in der alle fünf Akteure zu ihren individuellen Rechten kommen – auch hier ist das Theater der Realität einfach überlegen.
Dass für den Großteil des Publikums der türkischsprachige Anteil des Abends wohl nur erahnbar ist, schmälert den Genuss nicht. Es fordert allerdings. Ein bisschen, aber wirklich nur ein bisschen kürzer dürfte der Abend deshalb sein. Nach Möglichkeit nehmen Sie sich am besten jemanden mit, der des Türkischen mächtig ist. Das dürfte die anschließende Diskussion befördern und bereichern.
Rolf Stein
Kreiszeitung
25.10.2019
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